Captain Fantastic – Die unvollständige Rezension
„Ich ging in die Wälder, weil ich bewusst leben wollte. Ich wollte das Dasein auskosten. Ich wollte das Mark des Lebens einsaugen! Und alles fortwerfen, das kein Leben barg, um nicht an meinem Todestag Innezuwerden, daß ich nie gelebt hatte.“
Henry David Thoreau, Walden
Der Film „Captain Fantastic“ von Matt Ross, aus dem Jahre 2016, ist ein Film, über den ich eher diskutieren würde, als eine monologische Rezension zu schreiben. „Habt ihr verstanden warum…?“ – „War das wirklich stimmig als…?“ – „Würdet ihr auch…?“
Der Film wirft in mir Fragen auf, die ich mir auch unabhängig von ihm stelle. Die drei Hauptfragen lauten:
- Was muss ein Mensch können und wissen?
- Was ist Bildung?
- Wie sollten wir unsere Kinder erziehen?
Und diese drei Fragen explodieren in eine Vielzahl an Detailfragen, von denen ich hier eine Auswahl folgen lasse:
1. Was muss ein Mensch können und wissen?
Sollte ein Mensch in der Lage sein, sich sein Essen selbst anzubauen, zu jagen und zu schlachten? Sollte er kochen können? Sollte er sich verteidigen können? Sollte er töten können? Sollte er heilen können? Sollte er lesen, schreiben, rechnen können? Sollte er argumentieren, diskutieren, debattieren können? Sollte er sich seine Kleider selbst herstellen können? Sollte er sich seine Unterkunft selbst bauen können? Sollte er sich sein Werkzeug selbst herstellen können? Welche Werkzeuge sollte er beherrschen und welche Maschinen? Sollte er musizieren können? Singen? Tanzen? Klettern? Laufen? Reiten? Wie viele und welche Sprachen sollte er sprechen? Sollte er flirten können? Was muss er über Sex wissen? Muss er wissenschaftlich arbeiten können? Welche Wissenschaften muss er können? Was muss er über Geschichte wissen? Was über Politik? Über Recht? Philosophie? Muss er lernen können? Muss er lehren können?
2. Was ist Bildung?
Ist Bildung nur Theorie oder auch Praxis? Ist Bildung individuell oder sozial / kollektiv? Ist Bildung nur geistig oder auch körperlich? Wann ist man gebildet? Wann ausgebildet? Wann ungebildet? Was unterscheidet einfache Bildung von höherer Bildung? Bilden die Bürger den Staat oder bildet der Staat die Bürger?
3. Wie sollten wir unsere Kinder erziehen?
Welche Werte sollten Eltern vermitteln? Welche Rolle spielt Disziplin in der Erziehung? Autoritär oder antiautoritär? Sind Kinder nur kleine Erwachsene? Wieviel Selbstständigkeit soll man gewähren? Wieviel Selbstständigkeit soll man verlangen? Wie ehrlich soll man zu Kindern sein? Darf man lügen? Darf man Kindern das Lügen beibringen? Was darf ich Kindern sagen, zeigen, erklären, beibringen und was nicht? Soll man vorschreiben oder vorleben? Wann ist ein Kind erwachsen? Wann muss man ein Kind ziehen lassen? Wann muss man es herauswerfen?
Zum Film
Wie die Fragen zeigen, treibt mich sowohl das Thema des Films, als der Inhalt sehr um. Ich hoffe, ich finde noch die Zeit, weitere Gedanken dazu auf’s virtuelle Papier zu bringen. Bis dahin muss ich die Leser auf eine Fortsetzung dieses Textes vertrösten.
In Stichpunkten
- Der Film beginnt mit einem Initiationsritus, bei dem ein Hirsch nur mit einem Messer gejagt und getötet wird. Ein sehr archaisches Ritual, mit der das Kind als Erwachsener anerkannt wird. Der Film endet mit einem weiteren Initiationsritual: Vater und Sohn schneiden und rasieren sich die Haare. Eine harmlosere Handlung, die jedoch den Übergang des Wilden zur Zivilisation symbolisiert. Und eine Handlung, die regelmäßig wiederholt werden muss. Die Zivilisation muss ständig, ja täglich gefestigt werden. Sie verträgt keine Nachlässigkeit.
- Der Film spielt außerdem die neolithische Revolution im Kleinen nach: Am Anfang wird uns die Familie als Jäger und Sammler vorgestellt die nomadenhaft in Tipis wohnt und in ihrem mobilen Wohnsitz (welcher, wie ein Reittier einen Namen besitzt) umherzieht. Am Ende sind sie sesshaft geworden, ihr Bus ist außer Betrieb genommen und dient als Hühnerstall. Sie betreiben Viehzucht und Ackerbau und wohnen in einem festen Gebäude.
- Schön fand ich auch den Kontrast beim Besuch der Schwester des Vaters. Diese möchte nicht, dass vor ihren Kindern über den Tod der Mutter gesprochen wird und dass erzählt wird, dass diese sich selbst tötete. Nachdem die Kinder den Esstisch verlassen haben, um oben im Zimmer zu spielen, erklärt sie dem Vater, dass man Kindern so etwas nicht zumuten könne, da man sie vor solchen Realitäten schützen müssen. Daraufhin dann der Schnitt auf die Gesichter der Kinder der „Waldfamilie“, die völlig verstört mit zusehen, wie die „zivilisierten“ Kindern auf ihrem Computer ein Massaker anrichten.
Sicherlich kann man „diesen anderen Trommler hören“ (Walden). Nur stelle ich es mir ziemlich schwierig vor hier in Deutschland geboren so kompromisslos auszusteigen. Du wirst hier hereingeboren und erhältst zuerst einmal eine Steueridentifikationsnummer, um wenn Du erwachsen bist, mindestens Steuern für Rente, Pflege, und gegen Arbeitslosigkeit zu zahlen. Die Krankenversicherung schießt in Deiner Kindheit vor, möchte dies aber später ebenso wieder haben. Volkswirtschaftlich subventioniert man Dich mit Kindergeld, erhofft sich aber auch davon von Dir einen Mehrgewinn und kein Aussteigertum. Der Kinderarzt erwartet Dich zu den festgelegten U-Untersuchungen, ansonsten wird das Jugendamt informiert. Je nach Geburtsdatum zieht irgendwann die Vorschulpflicht, sowie darauf die Schulpflicht. Schwierig zu erklären, wenn da Blessuren vom Klettern sind, oder das Vorschulkind ausschweifend Sexualität thematisiert oder Faschismus definiert. Da steigt der Index beim Jugendamt. Es gibt Gesetze bezüglich dem Kindswohl. Nach der Schulpflicht erlischt ohne weitere Ausbildung das Kindergeld. Macht man eine, benötigt man ein Konto für den Zahlungseingang und bezahlt auch oben genannte Steuern. Verdient man zu wenig, muss man Kontoführungsgebühren bezahlen (einer der abstrusesten Vorgänge im gesamten System). Man kann nicht irgendwo ein Stück Land im Wald in Besitz nehmen und es bebauen. Entweder ist es Naturschutzgebiet und Du verstößt gegen Rechte, oder es gehört irgendwem. Also muss man Pacht oder Grundsteuer dafür bezahlen, gegebenenfalls beim Bauamt die Bebauung beantragen. Man kann nicht einfach sein Essen erjagen, man benötigt einen Jagd- bzw. einen Angelschein und muss sich an Vorschriften dafür halten. Du hast so abgelegen keine Bibliothek um Deine Kinder zu lehren, also benötigst Du Internet. Über einen Anbieter, der kostet Geld. Bist Du dann überhaupt klug genug sowohl Natur- als auch Geisteswissenschaften gleichermaßen gut zu schulen, ohne als erziehender Lehrer mit Autorität die zwischenmenschliche Beziehung zu Deinen Kindern zu gefährden? Hast Du die Kraft dafür dies nach der Arbeit zu tun? Denn eigentlich benötigst Du ja auch Geld, um alle anstehenden Abgaben zu leisten und Deinen kleinen Besitz in Stand zu halten? In der Regel ist es auch so, dass egal ob Du autoritär oder antiautoritär erziehst, für mindestens ein Kind früher oder später Dein Lebensentwurf scheiße ist und es ausbrechen muss. Womöglich ist auch die Neugier oder der Neid an den technologischen Fortschritten, die ja so alternativ lebend eher weniger gefördert und geschult werden, irgendwann so groß, dass der Entwurf von den Kindern nicht weiter gelebt wird. Was dieser junge Mensch dann für sein weiteres Leben wissen und können muss, inwiefern die Bildung und Erziehung die er erfahren hat ausreichen wird, ist wirklich sehr individuell und hängt mit den Erfahrungen zusammen die er machen wird, sowie den Menschen, denen er begegnen wird. Aber nochmal zum Aussteigen. Was wenn Du spätestens im Alter wirklich ernsthalft krank wirst, falls Du irgendwann die Krankenversicherung eingespart hast? Was wenn Du Dich dann nicht mehr eigenständig versorgen kannst? Was wenn Du stirbst? Man darf Dich nicht irgendwo bestatten. Die Beerdigung, na, kostet Geld.
Mir geht es auch nicht um einen Komplettausstieg, sondern um die Frage, ob man sich nicht etwas „archaisches“ erhalten sollte. Wäre es vielleicht für mich nützlich gewesen, statt in der Schule nur akademisch gefordert zu werden, auch etwas handwerkliches zu lernen? Vielleicht wie man Sachen repariert, oder so etwas? Oder mehr körperliche Tätigkeiten?
Oder wie man – als Einzelner, oder als Gruppe – in Ausnahmesituationen (Naturkatastrophen, Anschläge, Stromausfall, …) überlebt, hilft, sich organisiert, kommuniziert.
Wäre so etwas sinnvoll oder Zeit- und Ressourcenverschwendung, weil solche Ausnahmesituationen heute viel zu unwahrscheinlich sind?
Oder von diesen Ausnahmesitiationen einmal abgesehen: Würde ein wenig Primitivität uns vielleicht seelisch gut tun? Stichwort: Psychische Probleme, Burnouts, Zivilisationskrankheiten.
P.S. Ich habe den Artikel noch etwas erweitert.
Meiner Meinung nach hat sich das Schulbildungssystem in den letzten 30 Jahren kaum weiterentwickelt. Das hat nicht erst die Covid-Pandemie offen gelegt. Von der Mentalität her geht es, wie in vielen anderen Bereichen auch, nur um das Verwalten des Ist-Zustands. Ich finde grundsätzlich, das was gelehrt wird, für das Leben nicht ausreichend. Wenn man sich so Klassen-Chats als mini-gesellschaftliches Ellenbogenabbild anschaut, fehlt mindestens das Fach „Resilienz“. Wie komme ich mit Traumata klar, wie stärke ich meine Persönlichkeit, fördere ich Ressourcen und entwickle Fähigkeiten zum Umgang mit schwierigen Situationen.
Praktische Fertigkeiten erlernen, wie etwa im Werkunterricht, sollte in jeder Schulform ihre Berechtigung haben. Es kann nicht sein, dass ein Akademiker keinen Schwimmer im Toilettenspülkasten wechseln, oder Reifen wechseln kann.
Der Sportunterricht sollte im Sinne der Gesundheitsförderung ausgeweitet werden, aber nicht so derart leistungsorientiert sein, damit alle Kinder mitgenommen werden. Die Realität sieht folgendermaßen aus: Unsere Grundschule ist eine „bewegte Schule“ (kicher). Als mein großer einen Floorball-Kurs trainieren wollte, was bei seinen Mitschülern sehr gut ankam, haperte es an einer möglichen Lehrperson zur Beaufsichtigung. Auf dem Gymnasium gibt es gar keine AGs.